Warum lassen Künstler das mit sich machen?
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Die geschätzte Kollegin Verena Lettmayer hat kürzlich auf ihrem Blog den dritten Teil zum Thema KünstlerInnen und Geld veröffentlicht [1].
Darin erörtert sie einige verbale Zumutungen, die KünstlerInnen sich nicht gefallen lassen sollten. Wie "Kunst ist halt Luxus!" oder "Mit Kunst konnte man noch nie Geld verdienen!"
Ich möchte versuchen, sie in den größeren Zusammenhang der finanziellen Lage der KünstlerInnen stellen.
Dabei habe ich länger über Verena's Punkte nachgedacht, und welche vielleicht etwas differenzierter erörtert werden sollten. Aber die allen zugrunde liegende Frage lautet doch:
Warum lassen KünstlerInnen das mit sich machen?
Ein Bekannter, dem ich das kürzlich erläuterte, erwiderte: "Zu den Bedingungen, zu denen KünstlerInnen arbeiten, bekommst Du doch keinen Buchhalter und keine Sekretärin."
Warum arbeiten sie für so wenig Geld? (Und beileibe nicht nur sie, sondern weitgehend alle, die irgendwie von der Zuschreibung "kreativ" betroffen sind.)
Nach allgemeinen Schätzungen wird das Durchschnittseinkommen von KünstlerInnen bei ungefähr 11.000 Euro im Jahr angenommen. Das ist etwas über der Armutsgrenze von 10.320 Euro. [2]
Dennoch ist nicht zu beobachten, daß der Beruf KünstlerIn dadurch sonderlich unattraktiv würde. Sicherlich, einige geben auf, aber der Zustrom neuer Absolventen und solcher, die "trotzdem" dabei bleiben, reisst nicht ab. An KünstlerInnen herrscht kein Mangel.
Welche Gründe können diesem unökonomischen Verhalten zugrunde liegen?
Ich liste hier einige Hypothesen auf:
- KünstlerInnen/Kreative beziehen ihr Einkommen aus anderen Quellen (Erbe, Unterstützung durch Eltern/Partner, Brotjob) und setzen es nicht in Beziehung zu ihren künstlerischen Einkünften.
- der Markt gibt nicht mehr her. Reiningungskräfte, Krankenpfleger, Taxifahrer würden auch gern mehr verdienen, aber niemand ist bereit ihnen mehr zu zahlen.
- Mangel an Vorbildern. Anderen KünstlerInnen/Kreativen gehts auch nicht besser.
- die KünstlerInnen/Kreativen sind auf besonders perfide Weise Opfer des neoliberalen Wirtschaftssystems. Siehe dazu Lorey [3].
- Fortleben eines tradierten Künstlerbildes aus dem 19. Jahrhundert. Der Bohemien lehnt das Geld ab. Kunst und Geld schliessen sich aus. Nur wer wenig Geld verdient (und leidet) ist ein/e echte/r KünstlerIn. Ein entsprechender Habitus wird schon an Kunsthochschulen ausgebildet.
- es ist besser wenig zu haben, als (mit dem Kapitalismus, der Gesellschaft, dem System) einen Kompromiß einzugehen. Freiheitsgedanke.
- das Kunstsystem ist eine Lotterie. Wenige ziehen das große Los. Deshalb hören die anderen nicht mit dem Spielen auf.
- die staatliche Kunstförderung korrumpiert die KünstlerInnen, indem sie das falsche Signal sendet, alle würden schon irgendwie mitgeschleift. Zudem gewöhnt sie die Öffenlichkeit via Subventionen (besonders im Theater) an zu niedrige Preise für Kultur.
- das besondere und ungebrochene Prestige von Kunst. Selbst, wenn man wenig verdient ist man Teil eines glorreichen Unternehmens, das anderen ("normalen") Menschen verschlossen bleibt. Das geringe Einkommen ist der Preis für den Eintritt ins "Gottesreich". Eine Art Edel Hartz IV. Folglich ist auch der Austritt aus der Kunst keine normale Kündigung, sondern Schande, Makel und Versagen.
Was denkst Du, welche Gründe KünstlerInnen bewegen (trotzdem) für wenig Geld zu arbeiten? Kennst Du noch andere? Wie könnten unsere Hypothesen überprüft werden? Kennst Du entsprechende Untersuchungen?
* * *
[1] Reden wir über Geld. Teil 3 - http://boutiquevrenitm.blogspot.de/2012/09/sind-sie-kunstlerin-kreativer.html
[2] Die Künstlersozialkasse gibt für 2012 andere Zahlen an. Dabei handelt es sich aber um gemeldetes und nicht um tatsächliches Einkommen. https://www.kuenstlersozialkasse.de/service/ksk-in-zahlen (Neuer Link.)
[3] Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung http://eipcp.net/transversal/1106/lorey/de