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Boulevard Derrida

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Neulich stolperte ich über ein Interview mit Derrida [1], in dem er folgendes gefragt wurde: „Wenn Sie einen Dokumentarfilm über einen Philosophen sehen könnten: über Heidegger, Kant oder Hegel. Was würden Sie darin gern sehen?“

Derrida: „Ihr Sexualleben. Sie wollten eine schnelle Antwort. Dass sie über ihr Sexualleben reden.“

Das klingt ein wenig provokativ. Beim weiteren Nachdenken kommen mir einige Fragen und Gedanken.

Das Sexualleben. Reicht es nicht aus, daß es in beliebiger Menge Fernsehsendungen und Magazinbeiträge gibt, in denen von nichts anderem die Rede ist? Wer mit wem, wo, wie oft?

Daß es Foren im Internet gibt, wie MySpace [2], wo die Beteiligten von sich aus über ihr Sexualleben sprechen, und ihren Exhibitionismus offensichtlich auch geniessen?

Daß mir in der Geschichte nur eine (männliche) Gestalt einfällt, die durch ihr Sexualleben verewigt wurde. Casanova. Gibt es noch andere?

Es bleibt die grundsätzliche Frage, was an dem Privatleben einer bedeutenden Person über ihr Werk hinaus noch interessant sein könnte.

Proust hat sich bekanntlich intensiv mit dieser Problematik beschäftigt, musste er doch – zu Recht – fürchten, daß sein Werk nicht genügend von seiner Person getrennt werden würde. (Als „Unterhaltungsbeilage zum Gotha“, wie Walter Benjamin formulierte. [3])

Seine Kritik galt dem Literaturkritiker Saint-Beuve, dem er vorwarf, das Leben der Autoren über ihre Bücher zu stellen. (Biographismus).

„Der Fehler [...] von Saint-Beuve besteht darin, den umgekehrten Weg zu gehen, den der Künstler geht, um sich zu verwirklichen, er besteht darin, den wirklichen Fantin oder Manet, denjenigen, der sich nur in seinen Werken findet, mit Hilfe des vergänglichen Menschen zu erklären, seinen Zeitgenossen gleich, voller Fehler geschaffen, dem eine originelle Seele angekettet war und gegen den diese sich wehrte, von dem sie sich durch die Arbeit zu trennen, zu befreien suchte.“ [4]

Der „vergängliche Mensch“, - wieso interessiert er überhaupt?

Es sei das psychoanalytische Setting betrachtet, worin der Analysant fast alles von sich preisgibt, der Analytiker fast nichts. Was zu dem Phänomen der Übertragung führen kann und soll, darauf der Analysant über den Analytiker phantaisert, ihm Eigenschaften zuschreibt, die er haben kann oder auch nicht.

Jegliches Zusammentreffen zwischen zwei Unbekannten erzeugt Angst, erzeugt aus der grundsätzlich gegebenen Differenz des Anderen. Die daraus resultierende Frage: Wer ist der andere? steht nur vor-läufig für die wesentlich dringendere Frage: Wer bin ich? Sie wird ausweichend übergehend in: Wer ist der andere? verwandelt.

Die Differenz des Anderen wird dann besonders dringlich und alarmierend, wenn sie sich solcherart gestaltet, daß sie über das normale und ortsübliche hinausgeht. Alle grossen geistigen Leistungen gehören dazu.

Die grosse geistige Leistung, besonders, wenn sie, wie in der Kunst häufig, vorraussetzungslos erscheint, erzeugt nicht nur die allgemeine Frage, wie sie zustande kommen konnte, sondern auch im Negativen speziellen, warum ich sie nicht leisten konnte. Warum bin ich kein Einstein, Freud oder Marx?

Hilfreich und daher entlastend kommt folglich die Erörterung des „vergänglichen Menschen“ hinzu, die eben die kleinen Ticks und Schwächen aufzählend, ausweist, daß die Genies auch nur Menschen wie „Du und Ich“ waren. Wenn wir schliesslich wissen, daß Marx mit dem Dienstmädchen..., Proust mit dem Chauffeur... und Freud mit seinen Patientinnen..., - dann muss uns ihr Werk nicht weiter beunruhigen.

Bleibt noch zu erklären, warum sich Freud so obsessiv mit dem Sexualleben seiner Patienten beschäftigte.

Einmal, weil sie Patienten waren. Sie wandten sich von sich aus hilfesuchend an Freud. Nicht Freud analysierte sie gegen ihren Willen. (Die Analyse von Personen, die nicht darum gebeten haben, ist immer als fragwürdig zu betrachten.)

Gerade weil sie (in der Regel) Menschen ohne Werk waren, konnte Freud ihnen dabei helfen, sie als Genies des Sexuellen darzustellen (den Rattenmann, den Wolfsmann). Indem sie sich gerade darin als phantasievoll und künstlerisch sehen und akzeptieren konnten, konnten sie mithilfe Freuds das vorher abgespaltene (und verdrängte) konstruktiv reintegrieren.

Das ist gerade das Gegenteil des obsessiv investigativen Boulevards, der den Anderen ihr Sexualleben zu entreissen versucht.

Warum konnte Derrida das nicht sehen?

*******************************

[1] Interview Derrida:
http://www.realfictionfilme.de/filme/derrida/text.php

[2] Nur ein Beispiel bei Myspace:
http://blog.myspace.decenturl.com/myspace.com-blogs-die-defloration


[3] Benjamin, Zum Bilde Prousts, in Suhrkamp Taschenbuch 2791, Frankfurt 1998, S.77

[4] Proust, Vorwort zu „Propos de Peintre“, in Essays, Chroniken und andere Schriften, Suhrkamp, Frankfurt, 1992, S. 378


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3 Kommentare

Re: Boulevard Derrida

Boulevard Derrida - 09. March 2008 - 03:45

Eine interessante Frage. Nur eine, die sich gar nicht stellt, wenn man den Film, aus dessen Mitschrift die zitierte Antwort Derridas stammt, gesehen hat und SIEHT, WAS Derrida hier eigentlich sagt und WARUM. Er sagt es nebenbei auch nicht als schöngeistige Provokation sondern ganz banal: GENERVT.

WARUM also antwortet ein Denker der Dekonstruktion auf die Frage: „Wenn Sie einen Dokumentarfilm über einen Philosophen sehen könnten: über Heidegger, Kant oder Hegel. Was würden Sie darin gern sehen?“ mit „Ihr Sexualleben. Sie wollten eine schnelle Antwort. Dass sie über ihr Sexualleben reden.“

Zunächst Antwortet er genervt, da die Filmemacherin ihm kurze Antowrten abnötigt, was ihm offensichtlich zuwider läuft. Das führt direkt zur Frage, warum Derrida sich überhaupt auf einen solches Filmprojekt einlässt? zur Erinnerung: Derrida ist als der Philosoph bekannt geworden der sich strikt weigerte ein Foto oder irgend ein biografisches Detail von sich Preis zu geben bzw. seinen Veröffentlichungen (als "Paratext") beizufügen. Von dieser strikten Linie ist er zwar irgendwann abgekommen aber immer noch nicht so weit, das ständig filmende und reportierende hagiografen um ihn waren. Warum also dieses Projekt? Ein Blick auf die Kerndaten zeigt das Offensichtliche: Das er sich darauf überhaupt eingelassen hat und sich weitgehend klaglos einem zum Scheitern verurteiltem Konzept überlässt erklärt sich - biografisch. Er übergibt sich hier schlicht einer (biografischen) Schuld.

Das Konzept des Films, einen Film ÜBER Derrida zu machen und dabei die Grenzlinie zwischen LEBEN / WERK filmisch zu dekonstruieren scheitert. Derrida ist das schnell klar. Lässt er sich zu Beginn noch willig beim Frisör filmen, zieht er später bei der Frage, wie er und seine Frau sich kennen gelernt haben ein klare Grenze UND LÜGT - die Grenze dabei sichtbar machend.

Bevor Derrida die Frage gestellt wurde, was er aus einem Dokumentarfilm über einen Philosophen erfahren wollen, hat er nach schleppendem Gesprächsverlauf der Filmautorin die Frage gestellt, was das ganze eigentlich solle, sie filme nun stundenang irgendwelches unwesentliches Zeug und wen das interessieren solle. Als Reaktion stellt sie - offenbar selbst zunehmend ratlos und verunsichert - ihm dann die besagte Frage und er droht kurzzeitig die Contenance zu verlieren und antwortet dann leicht genervt "Ihr Sexualleben..." Nächste Frage!

WAS wird mit dieser nichtsdestotrotz brillianten Antwort "dekonstruiert", welche Unterscheidung in den Blick genommen? Natürlich keine andere als die zwischen LEBEN / WERK, ÖFFENTLICH / PRIVAT, EXTROVERTIERT / INTROVERTIERT usf. Die Antwort bringt auf den Punkt, dass Heidegger eben IRRTE, wenn er im SPIEGEL-Interview meinte, das man über Aristotels nicht mehr sagen könne als "er wurde geboren, philosophierte und starb" und der Rest nichts als Anekdoten seien (genau solche Anekdoten über Derrida sammelt der Film ja zu Beginn gezielt).

Der wesentliche Witz allen Denken, Reden und Schreiben Derridas ist nun aber doch gerade das darin immer wieder deutlich machen kann, dass genau diese Art von Unterscheidungen (also etwa die von LEBEN / WERK) nicht stabil, nicht aufrecht zu erhalten sind - wenigstens nicht unter dem Blick einer dekonstruktiven Leküre. Denn in jedem Werk findet sich konstitutiv Biografisches und jedes Leben, Künstlerleben zumal, überschreitet hier und da mehr oder weniger die Grenze zum Werk. Entlang genau solcher STELLEN lässt sich die HINFÄLLIGKEIT dieser Art von Unterscheidungen aufzeigen.

Genau solche STELLEN, die die Grenzen zwischen LEBEN / WERK etc. dekonstruieren, wünschte sich Derrida, das meint seine Antwort, in einem Dokumentarfilm über Philosophen zu sehen. SO WIE DIE S T E L L E N , DIE MAN IM FILM ÜBER DEN PHILOSOPHEN DERRIDA, in dem er dies gerade ausspricht SEHEN KANN.

Dabei ist seine Position klar: So sehr er darauf besteht, dass die Grenzziehungen wilkürlich, hinfällig und unnatürlich sind, so sehr besteht er darauf die (hier) verteidigen zu wollen.

Oder anders gesagt: Derrida hätte gar nicht sooo viel Grund gehabt genert zu antworten. Denn offensichtlich lässt sich sein Denken auch sehr gut in einem Oneliner auf den Punkt, wenn auch nicht auf den Begriff bringen. Das zeigt die STELLE, an der er die von Ihnen zitierte Antwort gibt deutich.


SIEHE AUCH:

Jason Rhoades, My Madinah (2003) [KANT / *****]
und
Manon de Boer, Sylvia Kristel (2003)

Re: Boulevard Derrida

Boulevard Derrida - 09. March 2008 - 03:50

Hahaha! Sie haben einen Filter laufen... (ROTFL) Herrlich!

also: Hinter "*****" verbirgt sich ein englisches, ganz und gar unphilosophisches HOMONYM von KANT...

Re: Boulevard Derrida

Boulevard Derrida - 09. March 2008 - 21:17

Sie schreiben:

"Der wesentliche Witz allen Denken, Reden und Schreiben Derridas ist nun aber doch gerade das darin immer wieder deutlich machen kann, dass genau diese Art von Unterscheidungen (also etwa die von LEBEN / WERK) nicht stabil, nicht aufrecht zu erhalten sind - wenigstens nicht unter dem Blick einer dekonstruktiven Leküre. Denn in jedem Werk findet sich konstitutiv Biografisches und jedes Leben, Künstlerleben zumal, überschreitet hier und da mehr oder weniger die Grenze zum Werk. Entlang genau solcher STELLEN lässt sich die HINFÄLLIGKEIT dieser Art von Unterscheidungen aufzeigen."

Und damit haben Sie Recht. Ich bin ein wenig mutwillig an die Derrida Antwort herangegangen, unter dem Aspekt, den Philosophen sollte ihr Sexualleben abgenötigt werden.

Aber man kann es natürlich genau so wie oben beschrieben sehen, als Ermahnung an die Philosophen, sich diesem Problem zu stellen.

Ich erwähnte Proust, weil er sich bisweilen zu dieser Instabilität äusserte. In den Essays "Sur la lecture" und "Propos de Peintre" zum Beispiel.

Seine Homosexualität hat er allerdings nie explizit erwähnt, sich also nicht geoutet. Allerdings hat Alain de Botton einen Vorschlag zu ihrer Lektüre gemacht. Im Kapitel "Wie man Freundschaften pflegt" geht er zuerst auf Prousts übertriebene, beinahe selbstverleugnende Konzillianz gegenüber seinen Freunden ein (am Beispiel eines Briefes), um dann die "Recherche" als den eigentlichen Brief (kommt immer an, würde Lacan raunen) zu interpretieren. In der er dann das sagen konnte, was er um der Freundschaft willen nicht sagen wollte.

 

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