Geschichten erzählen
Veröffentlicht am
Kennst Du die Situation, in der Dich jemand auffordert, anstatt Argumente zu bringen, eine Geschichte zu erzählen?
Das begegnet mir immer wieder auch in kulturellen Zusammenhängen. Mich befällt dabei schnell ein Unwohlsein. Gibt es für Kunst keine Argumente?
Ich war im Sommer auf einem Stammtisch zum Thema Kultur 2.0, vornehmlich zur Bewerbung von Kunst und Kultur in sozialen Netzwerken. Der Referent forderte uns auf "Geschichten zu erzählen". Ich fragte nach.
Wenn ich die Berliner Philharmoniker wäre, so erklärte mir der Referent, dann könnte ich einfach ankündigen: "Morgen, 19:00 Konzert!". Und die Leute kämen. Wäre ich hingegen ein kleines Provinzorchester, müsste ich eine Story um das Orchester herum aufbauen, die die potentiellen Zuhörer emotional anspräche und ihnen einen Brückenschlag zum Besuch anböte.
Das klingt nicht unplausibel. Wer nicht bekannt ist, muß mehr Aufwand betreiben, um wahrgenommen zu werden. Eigentlich ganz einfach.
Mir will allerdings nicht einleuchten, warum ein unbekanntes Kunstwerk nicht auch mit Argumenten und Fakten für sich werben könnte. Das Strickmuster der Werbung bei Produkten ohne jegliche unterscheidbare Eigenschaften (Parfum, Benzin, Zigaretten, Schokoriegel etc) zu emotionalisieren, ist nachvollziehbar.
Aber Kunst sollte doch von Anfang an auf Unterscheidungen aufbauen. Nur so macht sie überhaupt Sinn. Kunst ist Differenz per se.
Sicherlich kann die Differenz auch sehr gering ausfallen. Wenn zum Beispiel jemand mit kleinen Abweichungen malt, was schon Erfolg hatte. Dann fällt auch die Argumentation notgedrungen dürftig aus. Aber das spricht nicht gegen die Argumentation, nur gegen Faulheit und Bequemlichkeit. Gerade im Bereich der politischen Verfasstheit der Kunst gibt es noch genügend Freiräume zu entdecken.
Schließlich finden sich durchaus Fälle in denen die Geschichte über das Argument siegt. Die Bücher von Carlos Castaneda bilden nicht nur das Wissen und Denksystem des Yaqui-Indianer Don Juan ab, sie dokumentieren auch den persönlichen Lernprozess des Autors, der sich methodologisch nicht von seinem Gegenstand trennen lassen will.
Ähnlich geht Proust vor, der nach langwierigen Versuchen (Contre St.-Beuve) weder eine literaturkritische Abhandlung noch eine Theorie des Erinnerns und des Gedächtnisses (nach Bergson) verfassen wollte. Die Suche nach der verlorenen Zeit verschmilzt das Objekt der Erinnerung mit dem subjektiven Prozess seiner Gewahrwerdung.
Nur ihm hat Rorty das höchste Lob gespendet, da Proust, anders als Heidegger, den Begriffen keine weitere Bedeutung beimißt als seine eigene, endliche Erfahrung ihm erlaubt.
Beide Beispiele gehen jedoch in Umfang und Komplexität über das Geschichten-erzählen des Marketings hinaus. Daher könnte die Devise lauten: Geschichten gerne, aber nicht unter 1000 Seiten!
* * *
Was meinst Du? Wann lohnt es sich für Kunst und Kultur Argumente zu finden? Wann Geschichten?